Verkehrswende systematisch betrachtet

Anlässlich der IAA habe ich mir mal überlegt, was man für eine wirkliche Verkehrswende erforschen und entwickeln müsste:

Definition

Mobilität bedeutet die Möglichkeit, Menschen und Güter von A nach B zu bewegen, Verkehr ist die Realisierung dieser Bewegung. Der Begriff Mobilität ist dabei tendenziell positiv konnotiert, er assoziiert Freiheit und Chancen, wohingegen Verkehr oft problemorientiert also mit Bezug auf Ressourcenverbrauch, Unfälle und Emissionen assoziiert wird.

Eine erste Kategorisierung ist durch die Trennung von Menschen und Gütern und das Kriterium, ob eine Dienstleistung in Anspruch genommen wird, möglich. Es ergibt sich diese Matrix:

1: Menschen, die sich selbst organisiert von einem Ort zu einem anderen bewegen, Individualverkehr 3: Menschen, die mit Hilfe eines Dienstleisters von A nach B bewegt werden, Personentransport
2: Güter, die von selbst von einem Ort zu einem anderen bewegen 4: Güter, die mit Hilfe eines Dienstleisters von A nach B bewegt werden, Gütertransport

Die Kategorie 2, also sich selbst bewegende Güter ist vernachlässigbar klein. Mir sind nur auf Flüssen treibende Baumstämme und ziehende Viehherden eingefallen. Die anderen drei Kategorien spannen jedoch jeweils ein sehr großes Themenfeld auf.

Eine zweite Kategorisierung teilt das Thema Mobilität in die drei auch als Wirtschaftsfaktor gut trennbaren Felder

  • Verkehrsmittel
  • Verkehrswege/Verkehrsinfrastruktur
  • Mobilitätsdienstleistungen

Wie groß und systemrelevant diese Märkte sind, machen einige wenige Zahlen[1] bereits deutlich:

  • 378 Mrd €       Umsatz der deutschen Automobilindustrie (2020). In den Jahren davor lag der Wert deutlich höher.
  • 13 Mrd €         Umsatz der deutschen Bahnindustrie (2020)
  • 14 Mrd €         Umsatz der Luftfahrtbranche in Deutschland (2018)
  • 34 Mrd €         Etat des BMVI, davon 21 Mrd Invest (2021)[2]
  • 33 Mrd €         Umsatz Mobilitätsdienstleister in Deutschland (2019)
  • 6,5 Mrd €        Verkaufswert von Fahrrädern in Deutschland (2020)

Diese beiden Kategorien kann man verbinden und erhält diese Matrix

Individualverkehr Personentransport Gütertransport
Verkehrsmittel Rad, Scooter, Pkw, Motorrad, Kleinflugzeug, Yacht, etc Taxi, (Klein-)Bus, Bahnen, Schiff, Flugzeug, Seilbahn, Raketen, etc Lastenrad, Transporter, Lkw, Güterzug, Transportflugzeug, Containerschiff, Pipeline etc
Infrastruktur/
Verkehrswege
Wege, Straßen, Flughäfen, Häfen, Kanäle, Flug- und Schifffahrtsrouten Wie Individual + Gleise Wie links + Pipelines
Verkehrsdienst-
leistungen
Herstellen, Vermieten, Sharen, Verkaufen von Verkehrsmitteln

Bau und Unterhalt von Infrastruktur

Herstellen, Vermieten, Sharen, Verkaufen von Transportmitteln, Transportdienst anbieten, Bau und Unterhalt von Infrastruktur Herstellen, Vermieten, Sharen, Verkaufen von Transportmitteln Transportdienst anbieten, Bau und Unterhalt von Infrastruktur

Weitere Kategorisierungen teilen die Verkehrsmittel in motorisierte und nichtmotorisierte und die Wege nach ihrer Länge in Nahverkehr und Fernverkehr Schließlich könnte man auch historische (Pferd, Esel, Kamel, Kutsche, Fuhrwerk) und heutige Verkehrsmittel betrachten.

Wünschenswerte Zielkriterien der Mobilität

Schon die erste Auffächerung verschiedener Aspekte der Mobilität macht deren Vielfalt deutlich. Für die Forschung, aber auch für die Wirtschaft und Politik ist es wichtig, Kriterien aufzustellen, die als Zielgrößen für die Weiterentwicklung aller Mobilitätsaspekte relevant sind. Aus diesen können dann Forschungsagenden und Umsetzungsroadmaps abgeleitet werden. Ziele sind u.a.

Basisziele

  • Realisierung von Verkehrswegen, die die Mobilität überhaupt erst ermöglichen. Entwicklung der dafür notwendigen Fähigkeiten und Technologien
  • Entwicklung und Verwirklichung von Verkehrsmitteln

Sekundäre Ziele

  • Schnelligkeit, Erreichen des Ziels in minimaler Zeit
  • Sicherheit, Minimieren/Vermeiden von Unfällen, aber auch der Güterverluste und Piraterie
  • Komfort, wenig Reiseerschwernisse, Erhalt der Güterqualität unterwegs
  • Kosten minimieren

Weitere Ziele

  • Effizienz, also geringer Verbrauch an Platz, Energie und anderen Ressourcen in Herstellung und Betrieb
  • Geringe Emission, also Lärm, CO2, andere Abgase und Partikel

Eher versteckte Ziele

  • Nationale Souveränität (ggf. bei Mobilitätsdienstleistungen)
  • (Inter-)nationale Sicherheit, Militärische Aspekte
  • Erhöhung des Freizeitwerts durch Mobilität, von der Achterbahn bis zum Skilaufen
  • „Dual Use“. Mobilität als Sport, als Gruppenerlebnis, sozialer Event…

Thesen und Forschungsgebiete

Mobilitätspolitik bedeutet, Rahmenbedingungen und Agenden zu schaffen, die obige Mobilitätsziele erreichbar und umsetzbar machen. F&E bedeutet, Lösungen zur Erreichung dieser Ziele zu entwickeln und marktreif zu machen. Einige der vielen Entwicklungen sind:

  • Um von A nach B zu kommen, wird es wichtiger, dies schnell, günstig und komfortabel über die gesamte Distanz zu erreichen. Verkehrsmittel und -wege können wechseln (Multimodale Mobilität), nur das mobile Gesamtergebnis muss stimmen (MaaS). Um solche Gesamtlösungen anzubieten, braucht man
    • Eine neue, eng verzahnte Infrastruktur mit Transferlinks und –hubs
    • Mobilitätsanbieter, die quer zu den bisherigen, die Reise optimal planen und als Produkt anbieten.
  • Die Verkehrsbewegungen sollen bestmöglich an die Kapazität des Gesamtnetzes über alle Mobilitätsarten angepasst, also optimiert werden, idealerweise in Echtzeit. Um diese komplexen Optimierungen effizient durchführen zu können, braucht man
    • eine umfassende und genaue Datenerhebung, die aber dem Datenschutz genügen muss.
    • Einen digitalen Zwilling des Gesamtverkehrs(netzes)
    • Ebenso benötigt man starke Rechenverfahren (in Zukunft auch Quantenalgorithmen), die eine Optimierung über ein Gesamtnetz oder wenigstens große Teilbereiche durchführen können.
    • Und, wie beim Punkt zuvor, Dienstleister, die daraus ein attraktives Angebot für Reisende machen.
  • Es ist weitgehend Konsens der Verkehrs- und Stadtplaner[3], dass der urbane Verkehrsraum wird neu verteilt muss und der autogenutzte Straßenraum geringer, der für andere Verkehrsteilnehmende und für Nichtverkehrsnutzung größer werden wird. Forschungs- und Entwicklungsaufgaben sind
    • Die Durchsatzoptimierung pro Raum und dementsprechende Umstrukturierung.
    • Die Verzahnung von Stadtplanung und Verkehrsplanung als zu betrachtendes Gesamtsystem mit passenden Zielparametern, die Mobilität erhalten und Verkehrsaufkommen verringern können.
    • Die Entwicklung und Marktumsetzung neuer Verkehrssysteme und Nutzungskonzepte, besonders im urbanen Raum die zu dem neuverteilten Verkehrsraum passen: Systeme des Mietens und Teilens (Shared Mobility), Weiterentwicklung des ÖPNV, Erschließung der 3. Dimension (Hochbahnen, Seilbahnen, Urban Air Mobility)
  • Die Dekarbonisierung des Verkehrs benötigt klimaneutrale Antriebsenergien. Dies kann nur durch Sektorkopplung geschehen, also durch die Erschließung erneuerbarer Energiequellen für die Mobilität, entweder direkt oder über Energiezwischenspeicher oder direkt. Dies kostenkompetitiv und im industriellen Maßstab zu realisieren, sind die Forschungsthemen. Über diesen Weg sind Energiewende und Mobilitätswende eng verbunden.
    • Weiterentwicklung E-Mobilität und Ladeinfrastruktur
    • Wasserstoff für LKW, Busse, Bahn, Flugzeuge und Schiffe, Wasserstoff für Pkw eher nicht wettbewerbsfähig
    • Entwicklung energieeffizienter Verkehrssysteme (Hyperloop?, Magnetschwebesysteme?)
  • Die Vision Zero, also „Null Tote im Verkehr“ treibt aktive und passive Sicherheitssysteme. Dazu gehören:
    • Die unfallfreie/-arme Gestaltung der Verkehrsräume
    • die weitere Automatisierung von Fahr- und Überwachungsfunktionen (hochautomatisiertes Fahren).
    • Autonomes Fahren, das ökonomisch besonders für Shuttle- und Taxidienste interessant ist, für den Individualverkehr wird es stark überschätzt.
  • Optimierung des Gütertransports, in Anlehnung an das aktuelle Positionspapier des BDI[4] gehören dazu u.a.:
    • Hocheffiziente Logistikprozesse (KI-optimiert, Sensorüberwacht)
    • Alternative Antriebe und Kraftstoffe, insbesondere für LKW verbunden mit der notwendigen (Lade-)Infrastruktur
    • Ausbau der Verbindungspunkte/Verladestellen/Hubs zwischen den Gütersystemen Straße/Schiene/Wasser/Pipeline
    • Reduktion des Güterverkehrs durch Dezentralisierung und kürzere Erzeuger-Verbraucher-Wege
    • Verlagerung des Güterverkehrs auf die klimafreundlichste Transportart

[1] Quelle statista.com

[2] Quelle: Bundeshaushalt 2021: Verkehrsetat bleibt größter Investitionshaushalt – Verkehrspolitik und Digitale Infrastruktur, Finanzpolitik, Justiz und Verbraucherschutz | News | TRANSPORT – die Zeitung für den Güterverkehr (Lkw, Speditionen, Fuhrpark, Nutzfahrzeuge, Verkehrspolitik, Wirtschaft) (transport-online.de)

[3] Quelle zB Studie urbane Mobilität | polisMOBILITY (polis-mobility.de)

[4] Mammutaufgabe für nächste Bundesregierung (bdi.eu)

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